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Wir geben einander Halt

08.09.2020, 09.40

Die Beziehung gehöre wieder vermehrt in den Fokus der Psychotherapie. Alois Metz, katholischer Spitalseelsorger in der Klinik Zugersee, und sein Arbeitskollege Benedict Wildeisen, Leitender Psychologe, fordern dies in ihrem neuen Buch.

Benedict Wildeisen, was gab den Anlass für das neu erschienene Buch* mit dem Titel «Liebes Leben in der Psychiatrie. Zwischenmenschliche Beziehungen als Antidepressiva»?

Das Wichtigste in der Psychotherapie ist die therapeutische Beziehung. Hier ist die Studienlage ganz klar. Und entscheidend für die therapeutische Beziehung sind Empathie, positives Beachten und Echtheit. Wenn dies nicht gegeben ist, können wir aufhören.
Leider geht im Moment der Trend in eine andere Richtung, weg vom Fokus auf die therapeutische Beziehung hin zu mehr Technik. Unser Buch soll ein Aufruf, ein Weckruf sein, die therapeutische Beziehung wieder ins Zentrum zu setzen.

Wie entsteht eine tragfähige therapeutische Beziehung?

Eine tragfähige Beziehung kann entstehen, wenn der Therapeut dem Gegenüber mit echtem Interesse und auf Augenhöhe begegnet, wenn er berührbar bleibt, mitfühlend zu verstehen versucht und offen bleibt für die Reaktionen des Vis-à-vis. So entsteht Vertrauen, der Patient oder die Patientin kann sich öffnen, der Genesungsprozess kann beginnen. Dies wird im Buch ausgeführt und erläutert. Martin Buber hat einmal gesagt: «Der Mensch wird am Du zum Ich». Erst in einer echten Begegnung auf gleicher Höhe wird der Mensch zum Mit-Menschen, wird aus dem «man» ein Du und aus dem «es» ein Gegenüber.

Alois Metz, was genau findet man in eurem Buch?

Das Buch besteht aus Berichten von ganz unterschiedlichen Menschen, die alle an den hohen Stellenwert von Beziehungen glauben. Sie schreiben darüber, wie sie ihre Beziehungen leben, jeder in seinem eigenen Umfeld. Die Beiträge stammen zwar mehrheitlich aus den Fachbereichen Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie. Aber auch die Kultur ist vertreten – mit Gedanken von Willy Astor (Kabarettist, Musiker und Komponist) und Konstantin Wecker (Musiker, Komponist, Schauspieler und Autor).

Ihr persönlicher Artikel im Buch trägt die Überschrift «Beziehung ist mehr als zwei sich treffende Menschen». Was meinen Sie damit?

Ich berichte über meine Erfahrungen als Seelsorger in der Klinik Zugersee, wie ich auf die Menschen eingehe, Beziehungen im Sinne unseres Postulats aufbaue und was zurückkommt von denen, die ich begleiten darf. In der Psychiatrie erlebe ich viel Leiden. Dennoch arbeite ich nach all den Jahren immer noch mit Leidenschaft, denn ich erhalte viel zurück. Die Patientinnen und Patienten sind dankbar für meine Arbeit und dies wiederum empfinde ich als Geschenk. Tief in die Seele eines anderen hineinschauen zu dürfen, ist ein grosser Vertrauensbeweis. Das berührt und bewegt mich. In einer Beziehung mit starker gegenseitiger Bezogenheit liegt enormes Potential für die Therapie und ich meine, für das Menschsein überhaupt.

Können Sie ein Beispiel aus dem Klinikalltag erzählen?

Eine 25-jährige Patientin sass gut fünf Jahre wegen einer dissoziativen Störung im Rollstuhl. Obwohl die Beine rein körperlich völlig intakt waren, trennte ihr Gehirn alles unterhalb des Unterleibes ab.  Sie war längere Zeit bei uns und ich lernte sie sehr gut kennen. Neben ihrem Krankheitsbild auch ihre Vorlieben für Indianergeschichten, ihre liebevolle Beziehung zu ihrem elektrischen Rollstuhl, den sie Frida (Name geändert) nannte, ihre Ängste und ihren Humor. Mit Frida und ihr machte ich oft längere Touren. Eis und Schnee konnten uns nicht abhalten und wir lachten auf unseren Erkundungen viel. Aus meinem Bücherregal suchte ich Jugendgeschichten mit Indianern heraus, die ich selbst verschlungen hatte, und gab sie ihr zu lesen oder las ihr vor. So verbrachten wir trotz ihres schweren Krankheitsbildes viele unbeschwerte Stunden. Eines Tages rief sie mich an und fragte mich, ob ich sie besuchen möchte. Ja klar, antwortete ich am Telefon. An Tag des Besuches kam sie mir gehend, mit einem verschmitzten Lachen und voller Stolz entgegen. Wenige Monate nach der Entlassung aus der Klinik hat ihr Gehirn plötzlich ihre Beine erweckt und seitdem übt sie unermüdlich und mit grosser Begeisterung den sicheren Gang.
Tränen der Freude liefen mir über die Wangen.

*A. Metz und B. Wildeisen /Hrsg.): Liebes Leben in der Psychiatrie. Beziehungen als Antidepressivum, Bod-Verlag, Norderstdedt, erste Auflage 2020.

 

Interview: Bernadette Thalmann

 

 

 

 

 

Die Autoren

Benedict Wildeisen ist Leitender Psychologe und arbeitet seit über 30 Jahren in der Klinik Zugersee. Seit 2008 leitet er dort die Spezialstation für Depressionsbehandlung und Psychotherapie. Er liebt Reisen, Musik und absurdes Theater.

Alois Metz ist Theologe und seit gut fünf Jahren in der Klinik Zugersee tätig. Neben seinen philosophischen Gesprächen liebt er Wandern und das alte Handwerk des Drechselns.